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Die Schnauze lebt

Die Schnauze lebt
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Erster Teil: Deutsche Volksgenossen und Volksgenossinnen! Und wenn die Engländer sagen, ich wäre tot, so ist das eine Lüge. Ich bin nicht tot. Ich lebe und erfreue mich, wie Sie sehen, bester Gesundheit. Heute am 29. Oktober des Jahres 1957, nur 12 Jahre nach dem so schmählichen Kriegsende, an meinem sechzigsten Geburtstag stehe ich hier und rede zu Ihnen. Was bedarf es noch eines besseren Beweises? Der Mann, der diese Worte spricht, sitzt in seinem neuen Büro hinter einem ausladenden Schreibtisch, vor einer barocken, schweren Schrankwand. An der Wand ein großes Bild des Schauspielers Heinrich George. Ein Ölgemälde. Es trägt einen Trauerflor. Weiter rechts ein kleineres Bild. Es zeigt den Bundespräsidenten Theodor Heuss. Das Büro befindet sich in einer alten, aber ausgebauten, etwas abseits stehenden Scheune, auf dem Hof des Bauern Franz Nimrod am Ortsrand des hessischen 100-Seelen-Dörfchens Wisper, das nur eine Handvoll Kilometer weg von der großen Stadt Wiesbaden liegt. Durch das einen Spalt geöffnete Fenster hört man leise aber vernehmlich die Geräusche des Bauernhofes. Hühnergackern, Gänseschnattern, Kettenrasseln im Kuhstall, ein Hund bellt, eine klappernde Erntemaschine wird von einem blubbernden Lanz über den Hof gezogen. Und es riecht auch ein wenig. Der Bauer hat den ganzen Tag Jauche auf die Felder gefahren. Schade, dass er für den Anfang mit dieser bäuerlichen Absteige vorlieb nehmen muss, aber es wird schon wieder aufwärts gehen. Dafür wird die Vorsehung sorgen. Der Mann, der da in diesem Büro sitzt, wirkt in dem großen Raum klein, schmal und hager, einem Kanzlisten ähnlich, mit einem auffallend breiten Mund und abstehenden Ohren. Er hat die Worte in einen Handspiegel gesprochen, den er vor sich hält. Indes, mit seinem Anblick scheint er nicht zufrieden, er runzelt die Stirn, dann sucht er nach dem Kamm und einem geeigneten Haarwasser. Als er beides gefunden, glättet und kämmt er sein volles, wiewohl ein wenig strähniges, schwarzes Haar, streicht sich selbstverliebt mit der Hand über den Hinterkopf, wirft einen Blick in den Spiegel, lächelt zufrieden. Ja, so ist es gut, so kann er sich sehen lassen, wenn er vor den Auserwählten und Erlesenen, die sein Gönner und Freund, der Oberregierungsrat a.D. Hubertus Graf Hochstetten, hierher nach Wisper eingeladen hat, seinen erstes großen Auftritt haben wird. Den ersten Auftritt nach 12 Jahren. Wenn das der Martin wüsste, dieser Schleimscheißer, flüstert der Mann. Er lächelt maliziös. Mechanisch greift der Mann an den Schlipsknoten, rückt daran herum, tastet mit den Fingerspitzen an das Revers seines Jacketts. Nein, das Abzeichen hat er noch nicht angesteckt. Dazu ist immer noch Zeit. Er verwahrt es in der obersten Schublade seines Schreibtisches. Er zieht die Taschenuhr. Hm, macht er, noch zwei Stunden und achtundzwanzig Minuten... Als sich an diesem Tag, dem 29. Oktober 1957, am Morgen gegen zehn Uhr der Oberregierungsrat a.D. Graf Hochstetten zu Fuß durch die Innenstadt Wiesbadens zum Amtssitz des Regierungspräsidenten des Landes Hessen begab, schauten ihm viele Passanten lange nach. Man tuschelte. Vor ein paar Tagen war der neue Regierungspräsident Dr. Alois Bruchstetter feierlich in sein Amt eingeführt worden. Und es war aufgefallen, dass der Oberregierungsrat a.D. Graf Hochstetten, wiewohl seit Jahren außer Dienst, aber dennoch eingeladen, dieser Zeremonie ferngeblieben war. Hochstetten, bis zum Kriegsende im Amt, musste, obwohl niemals verurteilt oder angeklagt, wegen seiner Verstrickungen zum Regime der Nationalsozialisten, nach dem Willen der Besatzungsmacht noch im Sommer 45 seinen Hut nehmen. Seit dieser Zeit hat er sich fern von Wiesbaden in einer Art freiwilligem Exil in einem Dörfchen, wo er ein Landhaus besaß, aufgehalten und sonst kaum sehen lassen.
Autor:
Nakladatel: Weltbuch
Rok vydání: 2017
Jazyk : Němčina
Vazba: Paperback / softback
Počet stran: 444
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